Pflichtteilsergänzungsansprüche bei Immobilienschenkungen: Was Erben wirklich wissen müssen
18 Dezember 2025 0 Kommentare Lisa Madlberger

Pflichtteilsergänzungsansprüche bei Immobilienschenkungen: Was Erben wirklich wissen müssen

Wenn ein Elternteil ein Haus oder eine Wohnung zu Lebzeiten an ein Kind verschenkt, denkt viele, der Nachlass sei damit abgewickelt. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum. Wer als Kind, Elternteil oder Ehegatte ein Erbe erwartet, könnte später überrascht werden: Der Pflichtteilsergänzungsanspruch kann den Wert der Schenkung wieder in den Nachlass einbeziehen - und das mit schwerwiegenden Folgen für den Beschenkten.

Was ist der Pflichtteilsergänzungsanspruch?

Der Pflichtteil ist das Mindeste, was nahe Angehörige nach dem Tod eines Erblassers bekommen dürfen - unabhängig davon, was im Testament steht. Er beträgt die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Wenn der Erblasser aber zu Lebzeiten ein Haus verschenkt hat, könnte das den Pflichtteil reduzieren. Genau das soll der Pflichtteilsergänzungsanspruch verhindern. Er gibt dem Berechtigten das Recht, den Wert der Schenkung als Ergänzung zum Nachlass zu verlangen. So bleibt der Pflichtteil trotz vorweggenommener Erbfolge erhalten.

Dieser Anspruch ist in § 2325 BGB geregelt und gilt für Kinder, Eltern und Ehegatten. Wer also ein Haus verschenkt, muss damit rechnen, dass der Beschenkte später mit einem Zahlungsanspruch konfrontiert wird - nicht vom Erbe, sondern von einem anderen Erben, der seinen Pflichtteil nicht erreicht hat.

Warum Immobilien so kompliziert sind

Bei Geld, Aktien oder Autos ist es einfach: Der Wert zum Zeitpunkt der Schenkung zählt. Bei Immobilien nicht. Hier greift das sogenannte Niederstwertprinzip. Das bedeutet: Der Wert, der für die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs herangezogen wird, ist nicht der Wert zum Schenkungszeitpunkt, sondern der niedrigere Wert - entweder der Wert zum Schenkungstag oder der Wert zum Todestag, nachdem er mit dem Verbraucherpreisindex angepasst wurde.

Beispiel: Ein Elternteil schenkt 2015 eine Immobilie im Wert von 300.000 Euro an sein Kind. 2025 stirbt der Elternteil, und die Immobilie ist nun 600.000 Euro wert. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch wird nicht auf 600.000 Euro berechnet, sondern auf den um den Inflationsfaktor angepassten Wert von 2015 - also etwa 380.000 Euro. Wenn dieser Wert niedriger ist als der tatsächliche Wert von 600.000 Euro, bleibt der niedrigere Wert maßgeblich. Das ist für viele Erben eine Überraschung.

Wohnungsrecht und Nießbrauch: Der große Unterschied

Wenn der Schenker ein Wohnungsrecht oder Nießbrauchrecht behält, ändert sich alles. Dann wird der Wert der Schenkung nicht mit dem vollen Immobilienwert berechnet, sondern nur mit dem Teil, der tatsächlich übertragen wurde. Ein Haus im Wert von 500.000 Euro, bei dem der Elternteil ein lebenslanges Wohnungsrecht für eine Wohnung im Wert von 150.000 Euro behält, wird nur mit 350.000 Euro für den Pflichtteilsergänzungsanspruch gewertet.

Und hier kommt ein entscheidender Punkt: Bei Mehrfamilienhäusern mit mehr als einer Wohnung gilt seit der BGH-Entscheidung vom 15. Januar 2023 (Az. IV ZR 19/22) eine neue Regel. Wenn nur ein Teil der Wohnung - etwa eine von drei Wohnungen - mit Wohnungsrecht belastet ist, dann zählt die 10-Jahres-Frist für die Abschmelzung. Das heißt: Wenn die Schenkung schon zehn Jahre zurückliegt, ist der Anspruch komplett weg - egal, wie sehr sich der Wert der Immobilie erhöht hat.

Bei Einzelfamilienhäusern mit Nießbrauch bleibt dagegen der Wertvergleich wichtig. Hier kann der Anspruch auch nach zehn Jahren noch bestehen, wenn der angepasste Schenkungswert höher ist als der Wert am Todestag - was bei steigenden Preisen selten vorkommt, aber möglich ist.

Waage mit Haus und abschmelzendem Prozentsatz, symbolisiert das Niederstwertprinzip über zehn Jahre.

Die 10-Jahres-Frist: Die größte Waffe für Beschenkte

Das Abschmelzungsprinzip ist der wichtigste Schutz für den Beschenkten. Jedes Jahr, das seit der Schenkung vergangen ist, mindert den Pflichtteilsergänzungsanspruch um 10 Prozent. Nach zehn Jahren ist er komplett erloschen.

Das ist kein theoretisches Konzept. Es entscheidet in der Praxis über Millionenbeträge. Ein Fall aus der Praxis: Ein Vater schenkte 2014 eine Eigentumswohnung im Wert von 250.000 Euro an seine Tochter. Er starb 2023 - neun Jahre später. Der Wert der Wohnung war auf 420.000 Euro gestiegen. Der andere Sohn, der nichts erhalten hatte, wollte seinen Pflichtteil geltend machen. Der Anspruch wurde auf 250.000 Euro berechnet, abzüglich 90 % Abschmelzung - also nur noch 25.000 Euro. Ein Betrag, der für viele nicht einmal die Anwaltskosten deckt.

Die Frist beginnt am Tag der Schenkung - nicht am Todestag. Wer also vor 2015 eine Immobilie verschenkt hat, kann heute davon ausgehen, dass der Anspruch nicht mehr besteht. Das ist eine wichtige Entlastung für viele Familien.

Wie man den Anspruch geltend macht

Ein Pflichtteilsergänzungsanspruch entsteht nicht von selbst. Der Berechtigte muss ihn aktiv einfordern. Der erste Schritt ist ein Auskunftsverlangen gemäß § 2314 BGB. Der Erbe muss alle Schenkungen, die der Verstorbene in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod gemacht hat, offenlegen - inklusive Kaufpreise, Verträge und Gutachten.

Dann folgt die Wertermittlung. Für Immobilien ist ein Sachverständigengutachten Pflicht. Die Kosten liegen im Durchschnitt bei 1.250 Euro, aber bei größeren Objekten oder komplexen Fällen können sie leicht 2.500 Euro oder mehr betragen. Diese Kosten trägt der Antragsteller - und sie sind oft höher als der mögliche Anspruch.

Wenn der Wert feststeht, wird der Anspruch berechnet: Zuerst wird der Schenkungswert mit dem Verbraucherpreisindex auf den Todestag umgerechnet, dann wird die Abschmelzung angewendet, und schließlich wird der Unterschied zum Pflichtteil ermittelt. Oft wird das in einer sogenannten Stufenklage zusammen mit dem Pflichtteilanspruch und dem Auskunftsanspruch geltend gemacht.

Die Frist, um den Anspruch einzuklagen, beträgt drei Jahre nach dem Tod - aber nur, wenn der Berechtigte von der Schenkung wusste. Wenn nicht, läuft die Frist erst ab dem Zeitpunkt, an dem er von der Schenkung erfahren hat - maximal zehn Jahre nach dem Tod des Erblassers.

Familie bespricht Hausurkunde mit altem Zeitungsartikel und modernem Immobilienangebot.

Was Experten sagen - und warum die Gesetze diskutiert werden

Rechtsanwältin Beate Winkler, Fachanwältin für Erbrecht, sagt: „Bei Immobilienschenkungen mit Wohnungsrecht in Mehrfamilienhäusern ist die 10-Jahres-Frist heute der entscheidende Faktor.“ Die BGH-Entscheidung von 2023 hat viele Klagen unnötig gemacht - und das ist gut so, meint sie.

Aber es gibt auch Kritik. Prof. Dr. Susanne Beck von der Universität Frankfurt argumentiert, dass das Niederstwertprinzip in Zeiten steigender Immobilienpreise „unverhältnismäßige Härten“ erzeuge. Ein Haus, das 1995 für 100.000 Euro verschenkt wurde, hat heute einen Wert von 800.000 Euro. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch wird aber nur mit etwa 200.000 Euro berechnet - nach Inflation und Abschmelzung. Der andere Erbe bekommt also kaum etwas, obwohl der Wert stark gestiegen ist.

Die Deutsche Juristische Gesellschaft arbeitet deshalb an einer Reform: Der Abzinsungssatz von 10 % pro Jahr soll auf 7,5 % gesenkt werden, um die Abschmelzung langsamer zu machen. Das wäre ein erster Schritt, aber es reicht nicht. Viele Experten fordern eine grundlegende Neugestaltung - etwa die Einführung eines „realen Wertes“ statt des Niederstwertprinzips.

Was Sie jetzt tun sollten

Wenn Sie eine Immobilie verschenken wollen:

  • Prüfen Sie, ob ein Wohnungsrecht oder Nießbrauch sinnvoll ist - das kann die Abschmelzungsfrist aktivieren.
  • Halten Sie alle Unterlagen fest: Kaufpreis, Verträge, Wertgutachten.
  • Wenn die Schenkung älter als zehn Jahre ist, ist der Anspruch meist erloschen - das ist ein großer Vorteil.

Wenn Sie als Erbe einen Anspruch prüfen wollen:

  • Finden Sie heraus, ob eine Schenkung stattgefunden hat - fragen Sie andere Erben, prüfen Sie Akten.
  • Bestimmen Sie das Datum der Schenkung - das ist entscheidend für die Abschmelzung.
  • Holen Sie ein Immobiliengutachten ein - aber rechnen Sie vorher: Ist der mögliche Anspruch höher als die Kosten?

Die meisten Pflichtteilsergänzungsansprüche enden in einer Einigung - weil die Kosten für beide Seiten zu hoch sind. Ein guter Anwalt für Erbrecht kann oft verhindern, dass ein Familienstreit vor Gericht landet.

Was passiert, wenn man nichts tut?

Wenn ein Pflichtteilsberechtigter den Anspruch nicht innerhalb der Frist geltend macht, verjährt er. Das bedeutet: Der Beschenkte behält die Immobilie - und der andere Erbe hat kein Recht mehr auf Geld. Viele Erben wissen nicht, dass sie überhaupt einen Anspruch haben - und verlieren ihn dadurch.

Umgekehrt: Wer eine Immobilie geschenkt bekam und nicht weiß, dass ein Anspruch droht, könnte plötzlich mit einer Zahlungsforderung konfrontiert werden - sogar nach zehn Jahren, wenn der andere Erbe erst jetzt von der Schenkung erfahren hat.

Die Sicherheit liegt in der Transparenz. Wer im Vorfeld klare Verträge macht, Dokumente aufbewahrt und rechtzeitig berät, vermeidet Jahre später große Überraschungen.